In der fünften Folge des Podcast geht es um die Frage, wie anfällig Rechtsanwendung für Missbrauch und Vereinnahmung durch Ideologien ist. Anschauungsobjekt soll dabei das Zivilrecht sein. In besonders drastischer und nachhaltiger Weise wurden Rechtswissenschaft und Rechtsprechung in der Zeit des Nationalsozialismus beeinflusst. In dieser Zeit entstand ein staatliches System der Entrechtung und Verfolgung ganzer Personengruppen. Die Rechtsordnung spielte eine entscheidende Rolle bei der Verfestigung und Etablierung dieser Politik. Wie verhielt sich hierzu das Zivilrecht? In der Nachkriegszeit hielt sich lange der Mythos einer standhaften Zivilrechtsprechung. Ist diese Auffassung aber zutreffend?
Der Gast unserer Folge, Dr. Georg Falk, hat sich im Rahmen eines Forschungsprojekts näher mit der Rechtsprechung im OLG-Bezirk Frankfurt a.M. in der NS-Zeit befasst. Die Publikation „Willige Vollstrecker oder standhafte Richter?“, deren Mitverfasser unser Gast ist, stellt Gerichtsentscheidungen dar, die charakteristisch für die damalige Zeit stehen. Neben unauffälligen und teils mutigen Entscheidungen stechen auch Fälle heraus, in denen NS-Ideologie zur Richtschnur der gerichtlichen Entscheidung wurde. Anhand von zwei Beispielsfällen soll gezeigt werden, wie sich die Einbindung der NS-Ideologie konkret vollzog. Die Fälle verdeutlichen (wie im Fall Alice Biow), dass Entrechtung und Diskriminierung im Alltag oftmals der Vertreibung und Ermordung verfolgter Personen vorausgingen. Alice Biow verlor 1938 einen Zivilprozess. 1942 wurde diese zusammen mit ihrer jüngeren Schwester in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und ermordet.
Diese Fragen sind höchst aktuell. Zwar hat sich die Rechtsprechung nach 1945 gewandelt und orientiert sich heute am Verfassungsverständnis des Grundgesetzes. Hindert dies aber in jedem Fall eine Vereinnahmung durch bestimmte politische Ideologien? Wie kann die Ausbildung auf diese Herausforderungen reagieren? Kann Rechtsprechung überhaupt objektiv und neutral sein? Wie so oft erweist sich der Blick in die Vergangenheit als erkenntnisreich.
Shownotes
A) Allgemeine Literatur zur Rechtsprechung in der NS-Zeit
In der Folge genannt:
- Falk, Georg D. / Stump, Ulrich / Hartleib, Rudolf H. / Schlitz, Klaus / Braun, Jens-Daniel: Willige Vollstrecker oder standhafte Richter? Die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in Zivilsachen von 1933 bis 1945, Historische Kommission für Hessen, Marburg 2020.
- Gruenewaldt, Arthur von: Die Richterschaft des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Personalpolitik und Personalentwicklung, Tübingen 2015.
- Rüthers, Bernd: Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 8. Auflage, Tübingen 2017.
- Schröder, Rainer: „…aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“ Die Urteile des OLG Celle aus dem Dritten Reich, Baden-Baden 1988.
- Staff, Ilse: Justiz im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M. 1964.
Weitere lesenswerte Beiträge:
- Besprechung der Publikation von Falk / Stump / u.a., a.a.O.: Sangmeister, Bernd: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für eine rechtsstaatliche Justiz, Journal der Juristischen Zeitgeschichte 3 (2021), S. 101-113.
- Wrobel, Hans: Die Anfechtung der Rassenmischehe, Kritische Justiz (Hg.), Der Unrechts-Staat: Recht und Justiz im Nationalsozialismus, Sonderheft, Band II, Baden-Baden 1984, S. 99-124.
- Ders.: Groschuff und Crisolli – Wie zwei Amtsgerichtsräte nach dem 30. Januar 1933 versuchten, mit dem liberalistischen Mißbrauch des Firmenzusatzes „Deutsch“ aufzuräumen und so das Handelsregister von einer undeutschen Verfallserscheinung zu befreien, und was aus diesem Versuch wurde, in: Hans-Ernst Böttcher (Hg.), Recht Justiz Kritik, Festschrift für Richard Schmid, Baden-Baden 1985, S. 75-96.
- Dreyer, Martin: Die zivilgerichtliche Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf in der nationalsozialistischen Zeit, Osnabrücker Schriften zur Rechtsgeschichte, Band 10, Göttingen 2004.
- Hackländer, Philipp: „Im Namen des Deutschen Volkes“ – Der allgemein-zivilrechtliche Prozessalltag im Dritten Reich am Beispiel der Amtsgerichte Berlin und Spandau, Berlin 2001.
- Weichbrodt, Stephan: Geschichte des Kammergerichts von 1913 bis 1945, Berlin 2009.
- Lindemann, Peter: Pommersche Gerichtsbarkeit – Oberlandesgerichtsbezirk Stettin, Anfänge – Drittes Reich – Nachkrieg, Kiel 2007.
- Ludyga, Hannes: Das Oberlandesgericht München zwischen 1933 und 1945, Berlin 2012.
B) Fallbesprechung Alice Biow
- Falk / Stump / u.a., a.a.O., S. 683-691; speziell zum weiteren Verfolgungsschicksal siehe ebd., S. 689 f.
C) Fallbesprechung Volksempfänger
- Falk / Stump / u.a., a.a.O., S. 896-902.
- Die Bemühungen des NS-Staates um Vereinnahmung der Rechtspraxis im Bereich der Zwangsvollstreckung werden verdeutlicht durch eine Rede Hermann Görings vom Herbst 1934 vor der Akademie für Deutsches Recht. Die Rede ist abgedruckt in DGVZ 1934, 895.
- Wrobel, Hans: Die Pfändbarkeit des Volksempfängers – oder: Wie der vermeintlich unpolitische und neutrale § 811 Ziffer 1 ZPO nach 1933 im Sinne der NS-Ideologie ausgelegt wurde, Kritische Justiz 1985, 57-67, abrufbar unter https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0023-4834-1985-1-57.pdf?download_full_pdf=1 (5.1.2021)
- ZDF Terra X, 20. Jahrhundert 1930-1939 – Wie die NS-Zeit die Medien verändert hat, abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=lUZm2OFGaq4 (5.1.2021)
Quellen und Lizenzen
- Folgenbild: Überarbeitete Version von „Frankfurt am Main: Gerichtsstraße 2 (Gebäude B des Landgerichts), von Südosten gesehen“ von Roland Meinecke, veröffentlicht unter GNU-Lizenz (https://www.gnu.org/licenses/old-licenses/fdl-1.2.html (5.1.2021)).
- Kapitelbild „Volksempfänger“: Quelle &Lizenz unter https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ve301w.jpg